Szenen-Marketing
Seit Beginn der achtziger Jahre erlebt das Marketing eine starke Zunahme der Zahl neuer Marketing-Varianten (MegaMarketing, Maxi-Marketing, Warfare-Marketing, Reverse-Marketing, gesellschaftsorientiertes Marketing etc.). Nicht zuletzt als Folge der kontrovers geführten Diskussion über die Notwendigkeit eines neuen Paradigmas sind im Marketing immer schneller aufeinander folgende „Theoriewellen“ zu beobachten. Im Zuge dieses wellenförmigen „Theorietourismus“ sehen sich die Kritiker des Marketing mehr als je zuvor dazu aufgerufen, an den Grundprinzipien des Marketing zu rütteln.
Die vermeintliche Krise des Marketing wird dabei vor allem an der durch die Bedarfsorientierung verursachten Zeitfalle, der Verdrängung visionären Unternehmerspürsinns durch eine statistische und strategische „Paralyse“ (Marketing-Technokra-tie), der fehlenden marktbezogenen Vernetzung aller Unternehmensbereiche (Schnittstellenproblem) und dem gerade im Umweltbereich wachsenden Reglementierungsbedarf des Staates ausgemacht.
Im Zuge dieser Kritik an den fundamentalen Prinzipien des Marketing wird von dem Unternehmensberater Gerd Gerken letztlich sogar ein endgültiger Abschied vom Marketing gefordert. Statt weiterhin Marketing im Sinne einer marktorientierten Unternehmensführung zu betreiben, empfiehlt Gerken den Unternehmen die vollständige Verschmelzung mit den eigendynamischen Prozessen der Gesellschaft, die er mit dem Begriff der Szene kennzeichnet. Im Zusammenhang mit der Umschreibung des Begriffes der Szene wird an anderer Stelle auch von sozialen Fragmenten des Marktes gesprochen. Letztlich stellt die Szene damit eine Mischung aus sozialer Bezugsgruppe und einem bestimmten Lebensstil dar. Die gleichzeitige, informelle Mitgliedschaft einer Person in ganz unterschiedlichen Szenen prägt deren Lebensstil entscheidend.
Beispielsweise führt bei einer Person, die in ihrer Freizeit dem Hobby des Paraglyding nachgeht, in einer Laienspielgruppe Theater spielt und ausgedehnte Fahrradausflüge unternimmt, die Mitgliedschaft in den ortsbezogenen Szenen der Paraglyder, der Laienschauspieler und der aktiven Fahrrad-Fans zu einer ganz bestimmten Ausprägung des Lebensstils.
Den von den Unternehmen initiierten Prozeß der Verschmelzung bzw. (bedeutungsgleich hierzu) der Interfusion mit den eigendynamischen Entwicklungen der Gesellschaft kennzeichnet Gerken mit dem Begriff des Mimetischen Marketing oder, mit anderen Worten, Szenen-Marketing.
Erste Hinweise zur inhaltlichen Präzisierung dessen, was Gerken unter Szenen-Marketing versteht, ergeben sich aus den von ihm synonym verwendeten Begriffen des Mikro-Marketing, Bot-tom-Up-Marketing, Network-Marketing, Event-Marketing und Emotional-Leadership-Marketing. Darüber hinaus wird deutlich, dass die wachsende Individualisierung des Konsumentenverhaltens und die damit einhergehenden Schwierigkeiten bei der Erfassung und Bearbeitung ehedem homogenerer Zielgruppen erheblich zur Entstehung der Forderung nach einem Szenen-Marketing beigetragen hat.
Die weitere inhaltliche Konkretisierung des Szenen-Marketing führt in vielen Bereichen zu erheblichen Überschneidungen mit dem Konzept des Relationship-Marketing. Szenen-Marketing kennzeichnet demnach die systematische Planung, den Aufbau und die Steuerung einer Vielzahl von Beziehungsnetzwerken zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Bezugsgruppen durch eine weitestgehend personalisierte und individualisierte Form der Marktbearbeitung.
Die Realisation des Szenen-Marketing erfordert zunächst die Sicherstellung möglichst individualisierter Informationsgrundlagen. Erst das differenzierte Wissen um die individuellen Konsumstrukturen der Verbraucher schafft die Basis für die erfolgreiche Marktbearbeitung zunehmend fragmentierter Märkte bis hin zur Umsetzung des „Segment of one“-Gedankens. Entsprechende Informationen sind durch die wachsende Verbreitung von Scannerkassen, Kreditkarten und POS-Terminals im Handel in zunehmendem Maße verfügbar. Zudem ist der Aufbau eines Monitoring-Systems erforderlich, mit dem Unternehmungen in die Lage versetzt werden, möglichst frühzeitig „soziale Moden“ im Sinne neuer gesellschaftlicher Gefühlsströmungen, Sehnsüchte und Verhaltensweisen aufzuspüren.
Auf der Grundlage individualisierter Verhaltensmerkmale können dann Gruppen von Personen mit ähnlichen Wertstrukturen und vor allem Freizeitaktivitäten (z. B. Anhänger der Drachenfliegerei) zu Szenen zusammengefaßt werden. Somit kennzeichnet der Begriff der Szene letztlich eine Personengruppe, die im Rahmen einer psychographischen, vor allem lebensstilorientierten Marktsegmentierung identifiziert und bearbeitet werden soll. Der Szenenbegriff stellt somit inhaltlich betrachtet eine Umterminologisierung dar, mit welcher der Prozeß der Fragmentierung vieler Märkte und damit der Zersplitterung weniger großer in viele kleine Zielgruppen plakativ verdeutlicht werden soll.
Für diese einmal erfaßten Szenen muß dann ein den spezifischen Bedürfnissen der jeweiligen Szene angepaßtes Leistungsangebot entwickelt werden. Letztlich führt dies selbst im Rahmen der Großserienproduktion der Industriekonzerne zu einer „mass customization“. Aus der Perspektive eines Automobilherstellers könnte dies beispielsweise das Angebot eines multifunktionalen Großraumfahrzeugs mit einer vollständig variablen Innenausstattung zur problemlosen Beförderung empfindlicher Drachen im Innenraum des Autos bedeuten. Gleichzeitig führt diese Entwicklung für diejenigen Unternehmen, die sich dem Szenen-Marketing verschrieben haben, nicht dazu, auf die Massenproduktion standardisierter Produkte verzichten zu müssen. Vielmehr ist es in Analogie zum Verhalten der hybriden Konsumenten durchaus denkbar, für das wachsende Segment der stark preisorientierten Kunden preisgünstige Massenware anzubieten und simultan für eine Vielzahl von Szenen ganz spezifische, nicht zuletzt auch emotional differenzierte und hochprei-sigere Produkte anzubieten.
Neben einer maßgeschneiderten Produktpolitik erfordert Szenen-Marketing auch grundlegende Veränderungen in der Kommunikationspolitik. Hier findet ein Wandel von der Kommunikation mit sich passiv verhaltenden Zielgruppen zur Interaktion mit aktiven Szenen statt. Dies bedeutet, dass weniger die Vermittlung von Botschaften des Unternehmens im Mittelpunkt der Kommunikationspolitik steht, sondern die Förderung von Initiativen und Projekten der verschiedenen Szenen. Auch der Durchführung szenenorientierter Events und speziellen Werbeträgern, die auf die Bedürfnisse und Stimmungen der Szene ausgerichtet sind (z. B. video-on-demand, szenenspezifischer special-interest Titel oder Radio- bzw. Fernsehkabelprogramme), spielen beim Szenen-Marketing eine besondere Rolle. Darüber hinaus kommt dem professionellen Aufbau von Szenen-Clubs und der Herausgabe von Szenen-Zeitschriften eine hohe Bedeutung zu. Im Bereich der Preispolitik ist u. a. an die Ausgabe von Kundenkarten mit szenenspezifisch ausgestalteten Motiven und Zahlungs-, Kredit- und Servicefunktionen zu denken. Schließlich ist auch im Rahmen der elektronischen POS-Kommunikation im Einzelhandel über Einkaufswagen und Regale eine szenenspezifische Kommunikation möglich.
In diesem Zusammenhang wird die dem Szenen-Marketing innewohnende Notwendigkeit zu einer engen Abstimmung und Kooperation mit dem Handel deutlich, denn die szenenspezifische Marktbearbeitung kann sich nicht auf die Produkt- und Kommunikationspolitik allein beschränken, sondern muß auch in einer entsprechend differenzierten Distributionspolitik ihren Niederschlag finden. Erfolgversprechende Ansatzpunkte bieten sich beispielsweise durch die besondere Unterstützung der Ziele und Aktivitäten einzelner Szenenmitglieder, um auf diese Weise bewußt Meinungsführer und letztlich sogar Absatzmittler innnerhalb der Szenen für das Unternehmen zu gewinnen.
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