Turbo-Marketing
Bereits im Jahr 1958 entwickelte der am MIT tätige Wissenschaftler J.W. Forrester ein Modell, mit dem er den Einfluß des Zeitfaktors auf die Leistung eines Unternehmens beschreiben konnte. Unter dem Begriff der „Industrial Dynamics“ versuchte er zu ermitteln, wie sich Zeitverzögerungen im Produkt-und Informationsfluß auf ein traditionelles Geschäftssystem auswirken, an dem eine Fertigungsstätte sowie verschiedene Lager im Fertigungs-, Groß- und Einzelhandelsbereich beteiligt sind.
Anhand dieses Modells gelang es Forrester nachzuweisen, dass der Einfluß von externen Störungen - etwa in Form eines sich verändernden Einzelhandelsbedarfs - maßgeblich von der Zeitspanne zwischen dem Entstehen der Nachfrage und dem Eingang dieser Information im Fertigungsbereich abhängt. Je kürzer diese Zeitspanne, so die Ergebnisse der durchgeführten Simulationen, desto schneller erfolgt die Anpassung des Fertigungsbereichs, was wiederum die Effizienz der gesamten Auftragsabwicklung erhöht.
Es dauerte jedoch drei Jahrzehnte, bis der Faktor Zeit im europäischen und amerikanischen Raum auch in seiner Bedeutung für die strategische Unternehmensführung erkannt wurde. Im Rahmen komparativer Studien, in denen japanische Ent-wicklungs- und Fertigungsmethoden mit traditionellen Verfahren europäischer und amerikanischer Firmen verglichen wurden, zeigte sich, dass die Zeit immer mehr die Rolle des strategischen Erfolgsfaktors japanischer Anbieter übernommen hatte. Dies war vorläufiger Endpunkt einer Entwicklung, während der japanische Firmen ihre grundlegende Wettbewerbsstrategie insgesamt dreimal verändert hatten.
Nutzten diese zunächst ihre niedrigen Lohnkosten und die hohe Arbeitsproduktivität ihrer Mitarbeiter, so prägten seit Mitte der sechziger Jahre kostenorientierte Strategien unter konsequenter Ausnutzung von Erfahrungskurven- und Größeneffekten das Verhalten japanischer Unternehmen. Die damit notwendigerweise verbundene Fokussierung des Produktprogramms verkehrte sich in ihr Gegenteil, als flexible Fertigungssysteme seit den siebziger Jahren die kostengünstige Produktion einer breiten, auch differenzierte Kundenbedürfnisse erfüllenden Produktpalette ermöglichten. Mit seiner Betonung einer Just-in-time-Fertigung, strengen Qualitätskontrollen, dezentralen Mitarbeiterentscheidungen sowie engen Kooperationen mit den Zuliefererunternehmen sicherte dieser Ansatz der japanischen Wirtschaft in zahlreichen Branchen Wettbewerbsvorteile bis in die achtziger Jahre hinein.
Etwa ab Mitte der achtziger Jahre wurde deutlich, dass die japanische Wirtschaft abermals einen wettbewerbsstrategischen Wandel vollzogen hatte. Führenden japanischen Unternehmen vor allem in den Branchen Fahrzeugbau, Unterhaltungselektronik sowie der Computerindustrie war es offenbar gelungen, die Zeitspannen für die Produktentwicklung, Fertigung sowie die gesamte Auftragsabwicklung signifikant zu senken und damit Anpassungen an veränderte Marktsituationen deutlich schneller zu vollziehen als dies bei herkömmlichen Entwick-lungs- und Fertigungssystemen möglich ist. Die Zeit war zum wettbewerbsstrategischen Erfolgsfaktor geworden.
Als einer der ersten Marketingwissenschaftler erkannte Philip Kotler Ende der achtziger Jahre dieses Phänomen und wandte sich im Rahmen des von ihm benannten „Turbo-Marketing“-Konzeptes mit der Forderung an amerikanische und europäische Firmen, durch eine Beschleunigung der Entwicklungs-, Ferti-gungs- und gesamten Auftragsabwicklungszeiten das gegenüber ihren japanischen Konkurrenten verlorene Terrain zurückzugewinnen.
Kotler sieht drei wesentliche Entwicklungen, die zeitorientierte Strategien begünstigen bzw. notwendig machen: Zum einen hat sich ein gesellschaftlicher Wandel dahingehend vollzogen, dass der Faktor Zeit von vielen Konsumenten heute als wichtiger erachtet wird als dies noch vor zwei oder drei Jahrzehnten der Fall war. Es sind Segmente entstanden, für die eine kurze Zeitspanne zwischen einer Kaufentscheidung und dem Erhalt eines Produktes oder einer Dienstleistung unmittelbar nutzenstiftend wirkt und die vor allem bereit sind, für die Verkürzung dieser Zeitspanne höhere Preise zu zahlen.
Gleichzeitig haben auf Unternehmensseite Entwicklungen wie etwa das Total Quality Management oder die weitere Verbesserung von Informations- und Kommunikationstechnologien Platz gegriffen, die eine schnellere Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen ermöglichen. Schließlich -und damit schließt sich der Kreis zu der eingangs geschilderten Abfolge wettbewerbsstrategischer Grundorientierungen der japanischen Wirtschaft - haben traditionelle Wettbewerbsvorteile wie etwa geringe Kosten, überlegener Service oder eine hohe wahrgenommene Produktqualität an Profilierungs-kraft im Wettbewerb eingebüßt. An deren Stelle tritt mehr und mehr der Faktor Zeit.
Dennoch sind zeitorientierte Strategien nicht für jedes Unternehmen gleichermaßen sinnvoll. Kotler empfiehlt vielmehr zunächst eine vierstufige Analyse, an deren Ende die Antwort steht, ob ein Turbo-Marketing-Ansatz realisiert werden kann ( 27):
1. Besteht ein ausreichend großes und profitables Marktsegment mit zeitsensiblen Konsumenten?
Dabei ist insbesondere zu untersuchen, ob sich zeitorientierte Strategien auf Konsumentenseite auch in einer entsprechend höheren Preisbereitschaft niederschlagen. Ist dies nicht der Fall, wird also z. B. eine Verkürzung der Lieferzeit lediglich als Value-Added-Service angesehen, für den die Konsumenten aber einen höheren Preis nicht zu zahlen bereit sind, dann rechnen sich dazu notwendige Investitionen in Informations- und Kommunikationstechnologien zumeist nicht. Für die Identifikation zeitsensibler Segmente stehen heute verschiedene Marktforschungsverfahren wie etwa das Conjoint-Measurement zur Verfügung.
2. Ist eine Verkürzung der Entwicklungs- und Fertigungszeiten technisch und organisatorisch durchführbar?
Für die Reduzierung von Entwicklungs- und Fertigungszeiten stehen grundsätzlich drei verschiedene Wege offen: Zunächst kann jeweils die Zeitspanne, die in einzelnen Funktionsbereichen wie der Fertigung oder dem Vertrieb für die Auftragsabwicklung benötigt wird, verkürzt werden. Darüber hinaus ist es möglich, bestimmte Tätigkeitsabfolgen so miteinander zu kombinieren, dass sie nicht mehr in Abfolge, sondern simultan durchlaufen werden. Schließlich können bestimmte Entwicklungs- oder Fertigungsschritte durch technisch-organisatorische Maßnahmen gänzlich eingespart werden.
Die erfolgreiche Einführung zeitorientierter Strategien durch Unternehmen wie Ford, Xerox oder Hewlett-Packard offenbart verallgemeinerungsfähige Prinzipien, deren Anwendung sich bei der Reduzierung von Entwicklungs-, Fertigungs- und Auftragsbearbeitungszeiten bewährt hat:
Zum einen erscheint es vielfach notwendig, auf der Basis einer profunden Analyse der Güter- und Informationsströme im Unternehmen eine Reorganisation der Arbeitsabläufe vorzunehmen, denn diese erweisen sich oftmals als starr und ineffizient. Dabei sollten nicht nur die unternehmensinternen Abläufe, sondern das gesamte Geschäftssystem unter Einbeziehung aller vor- und nachgelagerten Unternehmen betrachtet werden.
Ferner empfehlen sich verschiedene Anpassungen der Aufbauorganisation. Zeitorientierte Unternehmen zeichnen sich in der Mehrzahl durch flache Hierarchien, eine produktbezogene Organisationsstruktur sowie Team-Strukturen aus. Zudem haben sie vielfach zeitbezogene Indikatoren in ihre Anreiz- und Steuerungssysteme aufgenommen.
Schließlich bedarf es bei der Strategieimplementierung einer entschlossenen Führung, denn nicht selten ist auf dem Weg zum zeitorientierten Unternehmen auch ein Wandel der Unternehmenskultur zu vollziehen. Praxisbeispiele zeigen, dass die Strategieimplementierung eine Mindestdauer von 12 bis 24 Monaten beansprucht.
3. Wie hoch sind die laufenden Kosten einer Turbo-Marketing-Strategie?
Über die Strategieimplementierung hinaus ist zu untersuchen, welche Konsequenzen Zeiteinsparungen für die laufenden Kosten der Beschaffung, der Produktion und des Vertriebs besitzen. Kritiker äußern die Befürchtung, dass zeitorientierte Strategien die relative Kosten- oder Qualitätsposition eines Unternehmens gefährden können. Branchenbeispiele deuten aber darauf hin, dass die drei Dimensionen Kosten, Qualität und Zeit keinesfalls in einem konfliktären Verhältnis zueinander stehen.
4. Wie schnell kann der gewonnene Wettbewerbsvorsprung durch Konkurrenten aufgeholt werden?
Gelingt es Unternehmen, durch die zuvor beschriebenen Maßnahmen nachhaltige Wettbewerbsvorteile zu erringen, dann stellt sich die Frage, wie lange diese Position erfolgreich gegenüber den Wettbewerbern verteidigt werden kann. Die Dauerhaftigkeit von Zeitvorteilen scheint sehr stark von der jeweiligen Branche abhängig zu sein. Toyota etwa hat seinen Vorsprung bei den Entwicklungszeiten neuer Modelle gegenüber seinen Konkurrenten stets aufrechterhalten können, obwohl diese ebenfalls deutliche Zeiteinsparungen realisiert haben.
Anders scheint es sich dagegen in vielen High Tech-Märkten zu verhalten. Kotler kommt hier zu dem Ergebnis, dass in Industrien mit dynamischen und sich diskontinuierlich vollziehenden technologischen Entwicklungen Zeitvorteile oftmals nur von kurzer Dauer sind und durch Technologiesprünge schnell obsolet werden können. Der mühsam errungene Zeitvorteil kann sich dann in einen Zeitnachteil verkehren.
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