Moral
In der Wirtschaftssoziologie:
Begriff mit reicher philosophischer (und soziologischer) Tradition; allgemein: die ideale Fundierung eines Systems von Werten und Normen (Ethik). [1] Institutionalisierung von M.: D. Hume bezeichnet alle Eigenschaften als moralisch, die von allen bei allen gutgeheissen werden (dagegen wandte I. Kant ein, dass das sittliche Gesetz absolut gelte). Die schottischen Moralphilosophen sahen den moral sense in der praktischen Überzeugung begründet, dass eine bestimmte Form des Handelns das grösste Glück für die grösste Zahl (J. Bentham) garantiert. Nach A. Smith {„Theory of moral sentiments“ 1759) ist das natürliche moralische Vermögen (für andere fühlen und die selbstischen Neigungen im Zaum halten) oberster Richter für Handlungen. Die moralischen Regeln, die in einer Gesellschaft gelten, sind Ergebnis der Beobachtung, welches Handeln unsere Gefühle erweckt. Ähnlich A. Ferguson (1767): Im Verein mit der Vernunft bilde die Empfindsamkeit für das, was von Mitmenschen herrührt, die Basis der Urteile über Menschen und ihr Handeln. - Nach W.G. Sumner (1907) hängt das soziale Verhalten von einer praktischen Übereinkunft über zweckmässiges Handeln ab. Verfestigte Gewohnheiten des Handelns (folkways), von denen allgemein angenommen wird, dass sie dem Wohl der Gesellschaft dienen, nennt er mores. Sie sind Grundlage jeglicher Institution.
[2] Moral als Strukturbegriff sozialer Ordnung: A. Comte sieht die moderne Gesellschaft sich auf ein positives Stadium zubewegen, „gekennzeichnet durch die Vorherrschaft des Sinnes für das Allgemeine über den Sinn für das Einzelne“. Dazu sei es unerlässlich, die Moral zu systematisieren und eine moralische Erziehung einzurichten. Neben die weltliche müsse eine geistliche Autorität treten, die die Sitten neu formt. Diese Autorität werde die positive Wissenschaft sein.- E. Durkheim versteht unter Moral „sanktionsbewehrte Verhaltensregeln“, die dann nichts Zwingendes an sich haben, wenn wir „ein angemessenes Verständnis der Moralgebote, der Gründe, von denen sie abhängen, und der Funktionen, die jede von ihnen erfüllt“, besitzen. Die Regeln der universellen Moral betreffen die Pflichten des Menschen gegen sich selbst und gegenüber der Menschheit. Für Familie, Beruf und Staatsbürgerrolle gelten partikulare M.en. Entscheidend ist hier die berufliche M., weil sie zwischen den individuellen und sozialen Interessen in arbeitsteiligen Gesellschaften vermittelt. Amoralisch ist der Egoismus; moralische Erziehung dient dazu, Moralität im Kollektivbewusstsein zu verankern.- Nach T. Par-sons (1977) sind moralische Werte (wie Gefühle) an sich „extra-societal categories“; erst durch Spezifizierung als Normen entfalten sie ihre integrative Kraft, sind sie Komponenten der Sozialstruktur und damit handlungsrelevant. Die moralische Verpflichtung, die die Mitglieder einer Gesellschaft eingehen müssen, um deren Bestand zu sichern, nennt Parsons commit-ment als Ergebnis der Sozialisation bedeutet es Solidarität aus Sicht des Systems und motivationale Identifikation aus Sicht des Individuums. Bei der wechselseitigen Strukturierung (Interpenetration) von Persönlichkeitssystem, kulturellem und sozialem System kommt der Moral eine integra-tive Funktion zu.- In diesem Prozess der Interpenetration sieht N. Luhmann (1984) die Funktion der Moral darin, bei der unausweichlichen Reduktion von Komplexität der jeweiligen anderen Systeme Kriterien der Bewertung solcher Reduktionen zu liefern. Die Kontrollfunktion von Moral äussert sich z.B. im binären Schematismus Billigung/Missbilligung.
[3] Relativität von M.begriffen: G. Simmel versteht seine „Einleitung in die Moralwissenschaft“ (1892/93) als Kritik der ethischen Grundbegriffe und des im Idealismus angenommenen Apriori der Sittlichkeit. Er wendet sich gegen die Vorstellung, dass eine Höherentwicklung der Gesellschaft eine vom Egoismus zum Altruismus sei; beide seien stets ineinander verschränkt. Jede Ethik ist Ergebnis sozialer Verhältnisse, die sich historisch als soziale Differenzierung und aktuell als soziale Wechselwirkungen darstellen. In seiner Zugehörigkeit zu einer Vielzahl sozialer Kreise wird sich der einzelne einer „unübersehbaren Fülle von Moralprinzipien“ bewusst.
[4] Diskurstheorie der M.: Nach J. Habermas (1981) ist Voraussetzung und Ziel einer universalistischen Moral die Verpflichtung auf die Regeln des herrschaftsfreien Diskurses. Moralische Urteile dienen dazu, „Handlungen im Lichte gültiger Normen oder die Gültigkeit der Normen im Lichte anerkennungswürdiger Prinzipien zu rechtfertigen“. Damit der praktische Diskurs zu einer öffentlichen Veranstaltung transformiert wird, muss jedes Individuum einen unparteilichen moralischen Gesichtspunkt einnehmen, was bedeutet, dass „alle Beteiligten gleichzeitig zur idealen Rollenübernahme“ angehalten werden. - Der soziologischen Frage nach der Legitimationsfunktion des Diskurses geht die anthropologische nach der Moralität von Gefühlen voraus. Habermas nennt alle Intuitionen moralisch, die durch „Schonung und Rücksichtnahme der extremen Verletzbarkeit“ des Menschen entgegenwirken.
[5] Den die Psyche kontrollierenden Aspekt von Moral betont S. Freud (1921), der im Über-Ich „die Vertretung aller moralischen Beschränkungen“ sieht.
[6] In der v.a. psychologischen Diskussion über moralische Entwicklung klingt die Entwicklungstheorie von J.-J. Rousseau nach, nach der sich erst ab dem 16. Lebensjahr Gefühlsleben und Sittlichkeit entfalten; bis dahin gilt der Mensch als vormoralisches Wesen und nicht reif für echte Sozialbeziehungen. Für J. Piaget (1932) ist Moral das Bewusstsein für ein System von Regeln und betrifft insofern sowohl die Logik des Denkens und die des Handelns. Die moralische Entwicklung geht von einem Realismus des Kindes (Orientierung an Erwachsenen und „natürlichen“ Geboten) zu einer autonomen Moral des Erwachsenen. In der Folge unterscheidet L. Kohlberg (1969, 1981) sechs Stufen der individuellen moralischen Entwicklung (Urteil, moralisches).
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