Positivismusstreit
In der Wirtschaftssoziologie:
von T.W. Adorno eingeführte Bezeichnung für die von ihm und K.R. Popper 1961 auf der Tübinger Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie begonnene und dann vor allem von J. Habermas und H. Albert fortgeführte Grundsatzdiskussion über die Logik der Sozialwissenschaften (Logik der Forschung). Dabei ging es u.a. um a) das Verhältnis zwischen soziologischer Theoriebildung und der „Gesellschaft“ als ihrem Gegenstand; b) das Verhältnis zwischen Theorie und „Erfahrung“ in den Sozialwissenschatten; c) das Verhältnis zwischen soziologischer Theorie und Geschichte; d) das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis sowie e) um die Wiederaufnahme des sog. Wert urteilsstreits. Dazu vertraten die Anhänger der „Kritischen Theorie“ der Gesellschaft (Adorno, Habermas) die Auffassung, dass a) die Soziologie „den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang als eine die Forschung selbst noch bestimmende Totalität“ begreifen müsse, von deren Struktur der Soziologe „vorgängig etwas verstanden haben muss“, wenn seine Kategorien dem Gegenstand „angemessen“ sein sollen; denn soziale Phänomene seien nicht „isoliert“, sondern nur als vom gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang strukturierte „Momente der Totalität“ zu verstehen: deshalb habe b) soziologische Theoriebildung an die „vorgängige“ d.h. „vorwissenschaftlich“ oder „lebensgeschichtlich“ erworbene „Erfahrung der Gesellschaft als Totalität“ anzuknüpfen, weshalb das Verhältnis von Theorie und Erfahrung nicht auf das der nachträglichen Überprüfung hypothetischer Sätze durch „restringierte Erfahrung“ im Sinne kontrollierter und reproduzierbarer (Einzel-) Beobachtungen reduziert werden dürfe; soziologische Theoriebildung habe c) auf die Formulierung „historischer Bewegungsgesetze abzuzielen“, „die sich, vermittelt durch das Bewusstsein der handelnden Subjekte, tendenziell durchsetzen“ und gleichzeitig „den objektiven Sinn eines historischen Lebenszusammenhanges“ aussprechen; damit sei auch d) das Verhältnis von Theorie und Praxis bestimmt: nicht bloss als Ummünzung wissenschaftlicher Prognosen in technische Empfehlungen für eine zweckrationale Mittelwahl, sondern darüberhinausgehend als Entfaltung der „Perspektive eines der Gesamtgesellschaft als Subjekt zurechenbaren Handelns“, die letztlich auf die „Emanzipation“ der gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge ziele; insofern e) jede Erkenntnisbemühung a priori von einem bestimmten - technischen, lebenspraktischen oder emanzipatorischen - normativen Vorverständnis oder „Interesse“ geleitet sei, müsse das „positivistische“ Postulat der „Wertfreiheit“ wissenschaftlicher Erkenntnis als ideologische Verschleierung der Vorherrschaft eines bestimmten - des technischen Erkenntnisinteresses betrachtet werden. Dagegen meinten die Vertreter des „Kritischen Rationalismus“ (K.R. Popper, H. Albert), die übrigens die von Adorno und Habermas vorgenommene Identifikation ihrer Position mit der des Positivismus scharf zurückweisen, dass a) der Begriff der „gesellschaftlichen Totalität“ eine Leerformel bleibe, solange nicht klargemacht wird, wie denn diese Totalität die sozialen Phänomene, die Gegenstand soziologischer Analyse sind, strukturiert und wie diesbezügliche Hypothesen zu überprüfen wären; schliesslich sei auch ein wie auch immer zustandegekommenes „Vorverständnis“ gesellschaftlicher Zusammenhänge weiter nichts als eine - möglicherweise falsche - Theorie, die kritisierbar und ggf. revidierbar sein müsse und für die keinesfalls apriorische Gültigkeit als Massstab für die Beurteilung der „Angemessenheit“ sozialwissenschaftlicher Kategorien und Modelle beansprucht werden könne; dies gelte b) auch für die sog. „lebensgeschichtlich erworbene Erfahrung“ und jede andere Art von „Erfahrung“: die Erfahrung (auch die kontrollierte „Beobachtung“ der Naturwissenschaft oder der empirischen Sozialforschung) sei kein „Fundament der Erkenntnis“, durch das irgendwelche Wahrheitsansprüche begründet werden könnten und an das daher immer wieder „anzuknüpfen“ sei, sondern bestenfalls eine kritische Instanz, die uns bei der Suche nach Irrtümern in unseren theoretischen Spekulationen hilft, dabei aber selbst der kritischen Nachprüfung unterliegt (Falsifikationismus, Fallibilismus); c) der Versuch, „historische Bewegungsgesetze“ zu formulieren, müsse scheitern, da der Ablauf der Geschichte wesentlich von der Entwicklung des menschlichen Wissens beeinflusst werde und es logisch unmöglich sei, die künftige Entwicklung des Wissens vorherzusagen (Historizismus); dies schliesse jedoch die Möglichkeit bedingter Sozialprognosen (Prognose) nicht aus; aus ähnlichen Gründen sei d) eine auf die Umwälzung der gesellschaftlichen „Totalität“ gerichtete Praxis im Sinne „holisti-scher Planung“ abzulehnen: es sei unmöglich, die Gesellschaftsentwicklung als Ganzes zu planen und zu kontrollieren; e) bei der Idee der „Wertfreiheit“ schliesslich gehe es nicht um die Leugnung der Bedeutung von Interessen und Wertfragen für den Forschungsprozess, sondern vielmehr um die Anerkennung der Idee der objektiven Wahrheit als „leitender Wert“ der Wissenschaft und um das Auseinanderhalten von Wahrheitsfragen und anderen Wertfragen; das Interesse an Wahrheit könne nicht auf ein technisches oder praktisches Interesse reduziert werden.
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