Physiokratie
In der Wirtschaftssoziologie:
Lehre der ersten nationalökonomischen Schule, der Physiokraten, deren Begründer und Hauptvertreter F. Quesnay war (1694-1774). Die Physiokratie unterstellt der politischen Ökonomie eine natürliche Ordnung und versuchte, die Gesetze der Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals zu ermitteln (tableau economique).
sozialphilosophisches und ökonomisches Lehrsystem einer Gruppe von französischen Ökonomen um Francois QUESNAY (1694-1774), zu der u.a. Victor R. Marquis de MIRABEAU (1715-1789), Anne R. J. TURGOT (1727-1781) und Pierre S. DUPONT de NEMOURS (1739-1817) gehörten. Anstoss zur Entwicklung der physiokratischen Lehre war der Zustand Frankreichs in der zweiten Hälfte des 18. Jh.: einer von Inflation, Bevölkerungsrückgang, hohen und äußerst ungleich verteilten Steuerlasten sowie willkürlichen Staatseingriffen zerrütteten agrarischen Wirtschaft mit einem kleinen, weitgehend handwerklich betriebenen industriellen Sektor. Der Niedergang Frankreichs konnte nach Meinung der Physiokraten nur aufgehalten werden, wenn die Produktivität der Landwirtschaft gesteigert und der dort erwirtschaftete Überschuss zur Sanierung der Staatsfinanzen verwendet würde. Um das zu zeigen, konstruierte QUESNAY ein Kreislaufmodell, in dem er die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen drei »Klassen« analysierte: Landwirtschaft, Industrie, Grundherren (Staat, Adel, Kirche u.a. Grundbesitzer). Von der Industrie wird angenommen, dass sie gerade kostendekkend arbeitet, also keinen Überschuss erwirtschaftet, und damit eine »sterile« Klasse ist. Die Landwirtschaft dagegen erwirtschaftet einen Überschuß, das Nettoprodukt (»produit net«), und ist folglich eine »produktive« Klasse. Das landwirtschaftliche Nettoprodukt (nach heutigen Begriffen die Wertschöpfung über Löhne und normale Gewinne hinaus) geht als Grundrente an die Grundherren, die es dazu verwenden, entweder Agrarprodukte oder industrielle Produkte zu kaufen. In seinem Tableau economique (1758-1759) demonstrierte QUESNAY, dass der wirtschaftliche Kreislauf zwischen den Klassen nur erhalten bleibt, wenn die Grundherren die gesamte Grundrente ausgeben. In späteren Schriften zeigte er darüber hinaus, dass der wirtschaftliche Kreislauf ein höheres oder niedrigeres Niveau erreicht, je nachdem, ob die Grundherren mehr oder weniger als die erhaltene Grundrente ausgeben, und nahm damit die Multiplikatoranalyse vorweg. Kerngedanke der QUESNAYschen Kreislaufanalyse ist, dass die Nachfrage nach Agrarprodukten ebenso wie die nach industriellen Produkten von der Höhe der Grundrente abhängt. Aus dieser Einsicht (die natürlich bedingt ist durch die angenommenen Produktivitätsverhältnisse in Landwirtschaft und Industrie) werden dann die typisch physiokratischen wirtschaftspolitischen Schlüsse gezogen. So wird der Übergang von der kleinbetrieblichen zur großbetrieblichen (und kapitalintensiveren) landwirtschaftlichen Betriebsform gefordert, von der QUESNAY in umfangreichen empirischen Studien nachwies, dass sie wesentlich produktiver wäre und folglich den wirtschaftlichen Kreislauf auf ein höheres Niveau bringe. Weiter werden hohe Agrarpreise und niedrige Preise für die in der Landwirtschaft benötigten industriellen Güter gefordert. Die Forderung nach der Abschaffung von Handelshemmnissen, der Aufhebung protektionistischer Maßnahmen und der Öffnung des Außenhandels mündeten in der bekannten Formel »laisser faire, laisser passer«. Schließlich wurde argumentiert, dass der wirtschaftliche Kreislauf nur dann auf dem gleichen Niveau erhalten bleibt, wenn allein das landwirtschaftliche Nettoprodukt besteuert wird; infolgedessen wird gefordert, alle Abgaben zugunsten einer auf dem Bodenertrag ruhenden Steuer (impöt unique) abzuschaffen. Derartige Forderungen waren in Frankreich des Ancien Regime nicht durchsetzbar, wie die kaum zweijährige Ministerzeit des Physiokraten TURGOT zeigte. Um so stärker wirkten die theoretischen Konzeptionen QUESNAYs nach. Karl MARX übernahm von ihm den Gedanken der Reproduktionsschemata, Wassily LEON-TIEF den Grundgedanken der zurInput-Output-Analyse verallgemeinerten Kreislaufanalyse. Der Begriff des Nettoproduktes ging in die Klassische Theorie ein, obwohl man mit Adam SMITH der Physiokratie immer wieder den Vorwurf machte, die Produktivität der Industrie gegenüber der der Landwirtschaft oder die Produktivität der Arbeit und des Kapitals gegenüber der des Bodens zu übersehen, weil man die an den faktischen Verhältnissen Frankreichs orientierte Analyse QUESNAYs verallgemeinerte. Weniger nachgewirkt hat die sozialphilosophische Komponente der physiokratischen Lehre: die Vorstellung, dass es im gesellschaftlichen Bereich eine natürliche Ordnung gäbe, die unmittelbar evident sei und die es durch bewußtes Handeln zu verwirklichen gelte. Der Grund dafür mag sein, dass der Glaube an »natürliche« Institutionen (»Physiokratie«, aus dem Griechischen: »Herrschaft der Natur«) im 19. As. verlorenging, aber auch, dass QUESNAY diese Gedanken benutzte, um eine aufgeklärte Monarchie zu fordern und parlamentarische Institutionen abzulehnen. Doch finden sich Anklänge an QUESNAYs Überlegungen über die Bedeutung gesellschaftlicher Institutionen für den Wirtschaftsablauf bei Adam SMITH, Karl MARX u.a. Literatur: Fox-Genovese, E. (1976). Eltis, W.A. (1975)
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