Naturkatastrophen und Globaler Wandel
1. Naturkatastrophen - Trends
Die Gefährdung durch Naturkatastrophen und ihre Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft sind im Wachsen begriffen. Ca. 600.000 Tote waren in den letzten zehn Jahren weltweit zu beklagen, die jährliche Anzahl ist steigend (IFRC 2000). Es ist sowohl eine starke Zunahme der Anzahl von Naturkatastrophen sowie der versicherten und volkswirtschaftlichen Schäden zu verzeichnen. Im Vergleich der 90er Jahre mit den 60er Jahren ergibt sich für Naturkatastrophen-Ereignisse eine Zunahme um 220% und für volkswirtschaftliche Schäden um 760%. Die versicherten Schäden stiegen im gleichen Zeitraum um 1510% an (Münchener Rückversicherung 2000).
Als Naturkatastrophe wird allgemein ein natürliches Extremereignis bezeichnet, das eine vulnerable Gesellschaft trifft. Wird die Selbsthilfefähigkeit der betroffenen Region deutlich überfordert und werden substantielle wirtschaftliche Schäden verursacht, welche internationale Hilfe erforderlich machen, spricht man von einer großen Naturkatastrophe. Man kann hierfür die folgenden Kriterien heranziehen:
Mehr als hundert Todesopfer;
ein Schaden größer als 1% des Bruttoinlandproduktes;
mehr als 1% der Bevölkerung als Betroffene (Smith 1996).
Die Auswirkungen von Naturkatastrophen auf den Menschen und seinen Lebensraum sind in Entwicklungsländern ungleich gravierender als in Industrieländern. Während ca. 75% der ökonomischen Schäden durch Naturkatastrophen in Industrieländern eintreten, sind 90% der Ereignisse und 95% der Todesopfer in den unterentwickelten Ländern zu beklagen, welche ungefähr zwei Drittel der Weltbevölkerung darstellen. Die Verluste an Pro-Kopf-()Bruttosozialprodukt werden in den Entwicklungsländern zwanzigmal so hoch eingeschätzt wie in den Industrieländern.
Die größte Naturkatastrophe bezüglich des Verlustes an Menschenleben waren die Überschwemmungen 1887 in der Region Henan im Kaiserreich China mit 900.000 Toten, die Grosse Manndränke 1362 an der Nordsee forderte ca. 100.000 Todesopfer. Im 20. Jahrhundert wird der traurige Rekord von Bangladesch gehalten: Ein Zyklon forderte 1970 300.000 Tote. Desweiteren gab es bei einem Erdbeben 1976 in der Region Tangshan in China 290.000 Tote. Diese Ereignisse sind nicht deckungsgleich mit den größten yolks- und versicherungswirtschaftlichen Ereignissen. Die größten volkswirtschaftlichen Naturkatastrophen waren das Kobe-Erdbeben 1995 in Japan mit einem geschätzten Schaden von mehr als 100 Milliarden US $ und das Northridge-Erdbeben in Kalifornien/USA 1994 mit ca. 44 Mrd. US $ Schaden. Northridge war ebenfalls die zweithöchste versicherungswirtschaftliche Katastrophe mit 15 Mrd. US $ versicherten Schäden; den größten Schaden in dieser Kategorie verursachte Hurrikan Andrew 1992 mit 17 Mrd. US $. Das Ereignis mit den bisher größten ökonomischen Schäden in Europa waren die Winterstürme 1990, die einen volkswirtschaftlichen Schaden von 15 Mrd. US $ und einen versicherten Schaden von 10 Mrd. US $ hervorriefen, und auch für diese Breitengrade relativ viele Todesopfer (230) forderten (Münchener Rückversicherung 1999).
Naturkatastrophen werden nach der Art des Eintrittes unterschieden:
Plötzlich auftretende Naturkatastrophen sind geotektonische Extremereignisse wie Erdbeben, Vulkanausbrüche und Massenbewegungen wie z. B. Bergstürze und extreme Wettereignisse, wie Überschwemmungen, Orkane in den mittleren Breitengraden und Zyklone in den Tropen (Hurrikane und Taifune).
Allmählich entstehende Naturkatastrophen, welche entweder periodisch wiederkehren oder auch dauerhafter Natur sind, sind Hungersnöte, Desertifikation und Versteppung.
Bei den plötzlich auftretenden Ereignissen kann das Ereignis in seinem Eintritt nicht (Hurrikan) oder nur gering (Überschwemmung) beeinflußt werden. Die Wahrscheinlichkeit eines Eintrittes (z. B. durch Klimawandel) kann jedoch anthropogen bedingt sein. Bei allmählich auftretenden Ereignissen ist die menschliche Einwirkung meist signifikant und es besteht eine gewisse Vorwamzeit. Beispielsweise entstehen Hungerkatastrophen als Folge von Dürren oft durch Versorgungsengpäße und Mißwirtschaft in den betroffenen Regionen. Aus diesem Grund werden Hungersnöte oft separat von anderen Naturkatastrophen behandelt.
2. Determinanten von Naturkatastrophen
Für den Eintritt von Naturkatastrophen sind zwei Verursachungskomplexe maßgeblich, welche hier als Subsysteme der „Natursphäre“ und „Anthroposphäre“ verstanden werden sollen. Natürliche Extremereignisse wie Stürme, Niederschläge oder Erdbeben stellen eine Bedrohung dar, dessen Ausmaß die natürliche Vulnerabilität bestimmt. Die sozioökonomische, politische und institutionelle Vulnerabiliät hingegen wird in der Anthroposphäre
Somit besteht eine doppelte Vulnerabilität. Hierbei ist das natürliche Extremereignis als notwendige Bedingung für den Eintritt einer Naturkatastrophe zu sehen. Eine Naturkatastrophe tritt allerdings nur ein, wenn dieses Extremereignis eine vulnerable Gesellschaft trifft. Erst durch die Interaktion von Natursphäre und Anthroposphäre manifestiert sich eine Naturkatastrophe. Hierdurch werden humanitäre Effekte (Todesopfer, Obdachlose, sonstige Betroffene), ökonomische und ökologische Schäden hervorgerufen.
Wurden diese beiden VerursachungsKomplexe in der Vergangenheit als unkorreliert betrachtet und Naturkatastrophen und ihre Auswirkungen traditionell als „Schicksal“ gesehen - Ereignisse, die der menschlichen Einflußnahme entzogen sind - so hat sich in den letzten Jahren die Betrachtungsweise geändert. Es wurde gezeigt, daß sich Faktoren dieser beiden Gruppen untereinander bedingen. Diese Phänomene werden unter dem Begriff des „Globalen Wandels“ subsummiert.
3. Zunahme von Naturkatastrophen
Wie oben gezeigt, ist ein Trend zur Zunahme von Naturkatastrophen und damit eine Steigerung sowohl der Konsequenzen für die menschliche Gesundheit, als auch der volkswirtschaftlichen Schäden zu verzeichnen. Es stellt sich die Frage, welche Determinanten der Natursphäre und der Anthroposphäre die Zunahme dieser Probleme bedingen. Auch sind Industrieländer und Entwicklungsländer in unterschiedlicher Weise betroffen.
3.1. Sachwertezuwachs
Der Sachwertezuwachs aufgrund des allgemein gestiegenen Lebensstandards in den Industrieländern spielt eine große Rolle bei der Zunahme sowohl der yolks- als auch der versicherungswirtschaftlichen Schäden. Dies zeigt sich, wenn die Entwicklung im vergleichsweise katastrophenarmen Deutschland im Vergleich der 80er mit den 90er Jahren betrachtet wird. Stieg die Anzahl der beobachteten Naturkatastrophen in diesem Zeitraum nur um 10%, so nahmen die volkswirtschaftlichen Schäden um 190%, die versicherten Schäden um 280% zu (Münchener Rückversicherung 1999).
3.2. Zunehmende Komplexität und Vernetztheit
Je stärker eine moderne Industriegesellschaft auf hochentwickelte Technologien angewiesen ist, desto anfälliger wird sie für außergewöhnliche Ereignisse, für welche diese Technologien nicht ausgelegt wurden. Ein Beispiel ist hier die Abhängigkeit von modernen Computertechnologien. Hinzu kommt die starke Interdependenz und Arbeitsteilung moderner Industriegesellschaften. Fällt ein Subsystem aus, werden auch die anderen Systemelemente betroffen und das Gesamtsystem kann seine Funktion nicht mehr erfüllen. Beispielsweise kann der Verlust von Stromübertragungsleitungen (z. B. infolge eines Sturmes) die Funktionsweise ganzer Volkswirtschaften grundlegend stören.
3.3. Elemente des Globalen Wandels
Unter Phänomenen des globalen Wandels werden Veränderungen verstanden, die direkt oder indirekt die natürlichen Lebensgrundlagen merklich modifizieren. War dies schon immer ein Merkmal menschlicher Nutzung der Umwelt, so haben die Auswirkungen jedoch mittlerweile eine globale Dimension erreicht und gefährden sowohl gegenwärtige als auch zukünftige Lebens- und Wirtschaftsweisen (WBGU 1993):
Der Mensch ist sowohl Verursacher als auch Betroffener. Er verändert seine Umwelt sowohl willentlich (z. B. Besiedlung, Ressourcennutzung) als auch unwillentlich (z. B. Treibhauseffekt).
Es besteht ein hohes Maß an Unsicherheit infolge von komplexen, nichtlinearen Kausalitäten und Zusammenhängen.
Durch den Menschen verursachte Modifikationen sind oft durch ihre - im Vergleich zu natürlichen Veränderungen - hohen Veränderungsraten charakterisiert. Hierdurch werden die Anpassungsfähigkeit und die Reparaturmechanismen des Systems Erde überfordert.
Der globale Wandel bedingt vor allem die Zunahme der humanitären Konsequenzen. Faktoren der Natursphäre als auch der Anthroposphäre sind hier ausschlaggebend. Die Diskussion dieser Faktoren ist besonders relevant für Entwicklungsländer. Längerfristig mag dies allerdings auch für die Gruppe der Industrieländer gelten.
Die wichtigsten Kernprobleme des Globalen Wandels mit Relevanz für Naturkatastrophen sind:
Bevölkerungsentwicklung und -verteilung
Es besteht ein hohes Wachstum der Weltbevölkerung, vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern. Dies ist u. a. auf ein relativ niedriges Bildungsniveau, welches eine Determinante von hohen Geburtenraten ist, unzureichend ausgebildete soziale Sicherungssysteme und soziale Ausgrenzung von Bevölkerungsklassen zurückzuführen. Weiterhin herrscht ein Trend zur Landflucht, was eine starke Urbanisierung besonders in Küstengebieten bewirkt. Die städtische Infrastruktur ist hierdurch überfordert. Es ergibt sich eine Zunahme der städtischen und ländlichen Armut und der Übernutzung der Umwelt, was eine erhöhte Vulnerabilität für Naturkatastrophen mit sich bringt.
Urbanisierung
Urbanisierungstendenzen erhöhen die Vulnerabilität für Naturkatastrophen. Insbesondere gilt dies für sog. „Megacities“ mit mehr als 1 Million Einwohner. Zwei- bis dreihundert dieser Großstädte existieren heute, ein Viertel der Weltbevölkerung lebt dort. Ein Großteil dieser Städte (20 der 30 größten) liegt in Entwicklungsländern. Diese Tendenz wird sich fortsetzen, wobei das größte Wachstumspotential in Südasien besteht (Smith 1996).
Hierdurch erhöht sich die Anfälligkeit für Naturkatastrophen in folgender Weise:
Die Urbanisierung konzentriert Mensch und Kapital auf engstem Raum;
Oft besteht eine starke Zuwanderung insbesondere durch arme Bevölkerungsschichten, die nur ungenügend materiell ausgerüstet sind und sich in der Folge in illegalen Siedlungen niederlassen, was zur Beanspruchung weniger geeigneter Flächen oder schon bestehender Problemzonen führt. Neue Risiken entstehen und bestehende werden erhöht. So wurde das Erdbeben in Guatemala-Stadt 1976 bekannt als das „Klassenbeben“, da der Großteil der 23.000 Toten unter den Armen zu beklagen war, welche in unzureichenden Behausungen lebten und von, mit dem Erdbeben einhergehenden, Hangrutschungen betroffen waren (IFRC 1999).
• Die Wartung und der Ausbau städtischer Infrastruktur kann oft mit dem hohen Tempo der Urbanisierung nicht mithalten, was zu graduellem Verfall und erhöhter Vulnerabilität führt.
Klimawandel
Die Emission langlebiger Treibhausgase in die Atmosphäre führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem signifikanten anthropogenen Klimaeffekt. Es sind Rückkopplungen dieses Treibhauseffektes mit der ozeanischen Zirkulation und der Dynamik der polaren Eismassen zu erwarten. Bis 2100 wird eine Temperaturzunahme um 1- 3,5 Grad Celsius und ein Anstieg des Meeresspiegels um 15-95 cm prognostiziert (Houghton et al. 1996). Heute bereits erfaßbar sind Veränderungen der Niederschlagsmuster in bestimmten Regionen (Münchener Rückversicherung 1999). Neuere -Forschungen deuten auf Zusammenhänge zwischen anthropogenem Treibhauseffekt und dem El-Nino-Effekt bzw. der Zunahme der Hurrikane im Westatlantik hin. Allerdings ist noch weithin ungeklärt, welche genauen Effekte sich durch die prognostizierte Verschiebung der Klimagürtel und damit der Vegetationszonen sowie durch den erwarteten Anstieg des Meeresspiegels und die Zunahme von Wetterextremen ergeben. Besonders gefährdet von einer Klimaänderung sind niedrig gelegene Küstenzonen und Inseln. Die Gefahr eines Meeresspiegelanstiegs ergibt sich zum einen aus der Ausdehnung der Wassermassen durch einen Temperaturanstieg und zum anderen aus der Schmelze von Eis und Schnee. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts betrug der Anstieg des Wasserstandes bei Flut 20 cm. Zudem birgt eine Zunahme der Extremereignisse in Form von Stürmen eine erhöhte Gefahr für niedrig gelegene Küstenzonen und Inseln.
Die Vulnerabilität wird auch durch anthropogene Prozesse verstärkt. Obwohl Küstengebiete insgesamt nur einen kleinen Teil der Landmasse der Erde ausmachen, sind sie häufig dicht besiedelt, da sie besonders fruchtbares Ackerland enthalten und für die Anlage großer Städte in besonderem Maße geeignet sind. Im Jahr 1999 lebten beinahe drei Milliarden Menschen in Küstengebieten - fast die Hälfte der Erdbevölkerung. Dreizehn der fünfzehn der weltweit größten urbanen Siedlungen befanden sich in diesen Regionen, wo das Bevölkerungswachstum zudem doppelt so hoch ist wie im globalen Durchschnitt.
In der weltweiten Hochwassergefährdungslage im Jahr 2000 ist erkennbar, daß gerade dicht besiedelte Küstenzonen (US-amerikanische Ostküste, Nordseeküste, Südostasien) gefährdet sind. Städte wie Tokio, Shanghai, Lagos, Hong Kong und auch Hamburg sind besonders bedroht. Die Kosten für einen Schutz sind astronomisch hoch. So werden die Kosten für einen umfassenden Schutz der Niederlande vor einer Meeresspiegelerhöhung von 50 cm auf 3,5 Billionen US $ geschätzt (IFRC 1999).
Ressourcenübernutzung
Übernutzung der natürlichen Ressourcen durch nicht-nachhaltige Landwirtschaft, damit einhergehende Bodenerosion und der Raubbau an Wäldern erhöhen das Naturkatastrophenrisiko. Beispielsweise führt der Verlust an natürlicher Vegetation wie vor allem an Wäldern zu geringerer Wasserabsorptionsfähigkeit der Böden, wodurch sich die Gefahr von Überschwemmungen und Erdrutschungen erhöht. Die Überschwemmungen des Jangste 1998 in der Volksrepublik China, welche mehr als 3000 Todesopfer forderten, sind durch diese Faktoren zumindest verstärkt worden. Mehr als vier Fünftel der Waldfläche des JangsteFlußbasins wurden in den letzten Jahren gerodet. In Mittelamerika begruben Hangrutschungen und Schlammlawinen als Folge von Hurricane Mitch Tausende von Menschen, die sich auf derart exponierten Hängen angesiedelt hatten (IFRC 1999).
Der globale Wandel hat eine räumliche und eine zeitliche Dimension. Die negativen Auswirkungen betreffen heute zum großen Teil Entwicklungsländer. In Zukunft ist jedoch zu erwarten, daß der globale Wandel auch verstärkt die Nordhalbkugel betreffen wird, wobei die Situation sich in den Entwicklungsländern noch verschlechtern dürfte.
Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Anstrengungen im Katastrophenmanagement noch zu verstärken. Während die Prävention im Mittelpunkt der internationalen IJNODekade zur Katastrophenreduktion (IDNDR) der 90er Jahre stand, ist der Risikotransfer (wie z. B. Versicherung) für die von Naturkatastrophen betroffenen Entwicklungsländer noch neues Terrain, das erst in letzter Zeit in das Interesse internationaler Entwicklungsorganisationen und der Forschung gerückt ist.
Weiterführende Literatur:
Houghton, J. T. et al.: Climate Change 1995, The Science of Climate Change. Contribution of Working Group II to the Second Assessment Report of the Intergovernmental Report on Climate Change, Cambridge 1996; International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies (IFRC) (Hrsg.): World Disasters Report, Genf 1999; International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies (IFRC) (Hrsg.): World Disasters Report, Genf 2000; Münchener Rückversicherung (Hrsg.): Topics 2000, München 1999; Münchener Rückversicherung (Hrsg.): Topics, München 2000; Smith, K.: Environmental Hazards. Assessing risk and reducing disaster, London 1996; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (Hrsg.): Welt im Wandel. Grundstruktur globaler Mensch-Umwelt-Beziehungen, Bonn 1993.
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